THESES ON HOPE
#10 Karol Radziszewski: One Day These Kids…
10. Februar - 15. April 2023
Between Bridges freut sich außerordentlich, eine Ausstellung des in Warschau lebenden Künstlers Karol Radziszewski zu präsentieren. Radziszewskis multidisziplinäres und archiv-basiertes Werk zeichnet sich durch eine Verkomplizierung vorherrschender historischer Narrative und ihrer konventionellen Repräsentationen aus. Seine Praxis verwebt eine Vielzahl von politischen, sozialen, religiös-kulturellen und kunsthistorischen Referenzen und untersucht diese auf ihr Verhältnisse zur Geschichte der Sexualität und der Konstruktion von Geschlecht hin. Bei Between Bridges präsentiert Radziszewski eine Reihe von neuen Arbeiten, erweiterten Serien und ein umfangreiches öffentliches Programm. Die Ausstellung hebt seine langjährige und idiosynkratische Methode hervor, historisch marginalisierte queere Praktiken aus mittel- und osteuropäischen Ländern zusammenzutragen, und stellt zudem seine aktuelle Auseinandersetzung mit einer Porträtmalerei jenseits dominanter Darstellungsformen vor.
Für One Day These Kids... führt Radziszewski seine Untersuchungen der normativen Logiken und Politiken von Institutionen fort. Er hat eine raumgreifende, ortsspezifische Installation entwickelt, die auf ein klassisches polnisches Klassenzimmer der 1990er Jahre und dessen gängige visuellen Codes anspielt, die eine Queerness-ausschließende Geschichtsschreibung und eine Auffassung eines nationalstaatlichen kulturellen Erbes produziert. In Anlehnung an diese Tradition, bei gleichzeitiger Unterwanderung dieser, nutzt Radziszewski den Ausstellungsraum als Medium, um über alternative pädagogische Modelle zu spekulieren, die von unterrepräsentierten oder zurückgewiesenen queeren Geschichten, Begehren und Verbindungen ausgehen. Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf David Wojnarowiczs wegweisende Foto-Text-Collage Untitled (One Day This Kid...) aus dem Jahr 1990, das ein vorpubertäres Porträt des Künstlers, umgeben von Erfahrungsberichten über zukünftig erduldete homophobe Gewalt, zeigt. Das Werk wurde in der ersten Ausstellung von Between Bridges 2006 in London ausgestellt. Radziszewski erkennt die Kontinuität und Vielseitigkeit von Wojnarowiczs Erfahrungen an und strebt gleichzeitig danach, sich eine Welt ohne sexuelle oder geschlechtsspezifische Gewalt vorzustellen. Er plädiert dafür, die Repräsentation der Geschichte von Queerness nicht nur deswegen als wichtig zu erachten, weil sie eine Realität zeigt, sondern auch, weil sie diese mit erschafft.
Die beiden Ausstellungsräume sind rund um die Serie The Classroom (2023) strukturiert: vierzehn Schulbänke, die aus einer polnischen Bildungseinrichtung stammen. Radziszewski hat diese Tische in skulpturale Oberflächen umgearbeitet, die er sowohl bemalt als auch mit Fotografien und Dokumenten collagiert und die in engem Bezug zu seiner künstlerischen Forschung über queere Geschichtsschreibung stehen. Eindrücklich wird diese Forschung in zwei von Radziszewskis Langzeitprojekten: Das erste ist DIK Fagazine, eine von Radziszewski 2005 gegründete und herausgegebene Zeitschrift – und bis heute das einzige mittel- und osteuropäische Kunstmagazin, das sich auf männliche Homosexualität konzentriert (später wurde der Themenkreis auf queere Inhalte und Bildwelten erweitert). Das zweite ist das Queer Archives Institute, eine Para-Institution, die 2015 von Radziszewski gegründet wurde als „gemeinnützige, künstlerisch geführte Organisation, die sich der Erforschung, Sammlung, Digitalisierung, Präsentation, Ausstellung, Analyse und künstlerischen Interpretation von queeren Archiven mit einem besonderen Fokus auf Mittel- und Osteuropa widmet“. Beide Projekte tragen Spuren von explizitem oder angedeutetem queeren Begehren und Dissidenz über Zeit und Raum hinweg zusammen und stützen sich auf persönliche Begegnungen, Freundschaften und Zuneigungen zu Künstler*innen, Denker*innen und Aktivist*innen, von denen viele in dieser Ausstellung vertreten sind.
Im Ausstellungsraum im Erdgeschoss zeigt Radziszewski zwanzig, bewusst kitschig gerahmte Reproduktionen aus seiner Gemäldeserie The Gallery of Portraits (2020–). Die Art und Weise der Präsentation erinnert an die gängige Praxis, in polnischen Klassenzimmern Reproduktionen von Bildnissen historisch bedeutender – und von der Regierung anerkannter – Persönlichkeiten zu hängen. The Gallery of Portraits ist eine transnationale Erweiterung seiner umfassenden Serie Poczet (2017) – zweiundzwanzig Ahnenporträts nicht-heteronormativer polnischer Persönlichkeiten aus dem vergangenem Jahrtausend – und zeigt nun Personen aus zahlreichen mittel- und osteuropäischen Ländern. Die Porträts bekräftigen Gesten der Queerness, wie sie von den Protagonist*innen ausgedrückt wurden, jedoch weitgehend aus ihrer Geschichtsschreibung verdrängt worden sind. Dazu gehören: Der in Polen geborene Adlige und spätere US-amerikanische Militärkommandant Kazimierz Pułaski (1745-1779); der estnische Dichter Kristian Jaak Peterson (1801-1822); der ukrainische Schriftsteller, Künstler und Ethnograf Taras Schewtschenko (1814-1861); der ungarische Maler und Philosoph László Mednyánszky (1852-1919); die ukrainische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Olha Kobylianska (1863-1942); die ukrainische Dichterin, Dramatikerin und Aktivistin Lesya Ukrainka (1871-1913); der tschechischer Dichter, Schriftsteller und Literaturkritiker Jiří Karásek ze Lvovic (1871-1951); die kroatische Künstlerin Nasta Rojc (1883-1964); die lettische Bühnen- und Stummfilmschauspielerin Marija Leiko (1887-1938); die rumänische Komponistin und Pianistin Clara Haskil (1895-1960); der slowakische Schwulenrechtler Imrich Matyáš (1896-1974); die tschechische Künstlerin Toyen (1902-1980); die rumänische Malerin Magdalena Rădulescu (1902-1983); die slowenische Schriftstellerin und Anwältin Ljuba Prenner (1906-1977); die litauische Künstlerin und Fotografin Veronika Šleivytė (1906-1998); der armenische Filmregisseur, Drehbuchautor und Künstler Sergei Parajanov (1924-1990); die litauische Dichterin und Übersetzerin Janina Degutytė (1928-1990); der weißrussische Schachspieler Eugenij Ruban (1941-1997); der litauische Fotograf Virgilijus Šonta (1952-1992); und die polnische Physikerin, Transgender-Aktivistin und Mitglied der Solidarność-Bewegung Ewa Hołuszko (geboren 1950).
Im selben Ausstellungsraum präsentiert Radziszewski zwei weitere Gemälde, die Bezug nehmen auf die beiden „Polnischen Stonewalls“. An eine Kreidetafel erinnerend, verweist Hiacynt (2023) auf die Bedeutung der Akcja „Hiacynt" (Operation „Hyazinth“), einer polizeilichen Großmaßnahme, die 1985-87 stattfand und darauf abzielte, eine Datenbank aller polnischen Homosexuellen zu erstellen. Diese Aktion bewirkte neben massenweiser Emigration und Verschwiegenheit auch eine politische Gegenbewegung, zu der auch die Gründung des Warszawski Ruch Homoseksualny (Warschauer Schwulenbewegung) zählt. Die spezifische Platzierung des Porträts von Margot (2020) nimmt Bezug auf die Klassenzimmerporträts politischer oder religiöser Anführer. Das Gemälde zeigt die nicht-binäre Aktivist*in, deren Verhaftung nach Beschädigung eines mit homophoben Slogans versehenen Trucks eine nationale und transnationale Protestwelle gegen die polnische Regierung und deren brutalen und autoritären Menschenrechtsverletzungen von LGBTQ+ Personen auslöste.
Im Treppenhaus ist das Selbstporträt (2019) zu sehen, das den Künstler im Alter von neun Jahren als Prinzessin zeigt. Es ist Teil von 1989 (2017–), für das Radziszewski Skizzenbuchzeichnungen aus seiner Kindheit auf eine Serie von Gemälden und Wandmalereien transferiert hat. Diese zeigen, neben einigen religiösen oder staatlichen Referenzen, eine Vielzahl von hyperfeminine und effeminierte Personen und Kreaturen, die in einer Zeit des bedeutenden politischen und sozialen Wandels entstanden sind.
Ein zweites Klassenzimmer ist im unteren Ausstellungsraum eingerichtet, umrahmt von drei neuen, für die Ausstellung entstandenen Porträts nicht-heteronormativer Pädagog*innen, die zu der Serie The Gallery of Portraits gehören. Das erste zeigt den Maler und Mitbegründer der Münchner Secession Paul Hoecker (1854 in Oberlangengau, heute Teil Niederschlesiens - 1910 in München); Hoecker wurde 1891 als Professor an die Münchner Akademie berufen und galt dort als einer der ersten „modernen“ Pädagogen. Da er für eines seiner Madonnenbilder einen ihm nahestehenden Stricher als Modell verwendet haben soll, trat er 1897 zurück. Das zweite Porträt zeigt den Maler, Grafiker und Performer Krzysztof Jung (1951 in Warschau - 1998 in Warschau), der heute als Wegbereiter der polnischen queeren Kunst gilt. Er war aus wirtschaftlichen Gründen dazu veranlasst, Kunstlehrer an einem Gymnasium zu werden und wurde für seine unkonventionellen Lehrmethoden bekannt. Das dritte Bild zeigt die Literaturwissenschaftlerin Maria Janion (1926 in Mońki - 2020 in Warschau), die für ihre Seminare bekannt war, die Generationen von Feminist*innen und kritische Denker*innen in und außerhalb Polens geprägt haben. Janion war eine glühende Verfechterin queer-feministischer und antirassistischer Bewegungen und hat sich im Alter von 91 Jahren öffentlich als lesbisch geoutet. Ein zweites an eine Schultafel erinnernde Gemälde, komplettiert den unteren Ausstellungsraum. Es trägt den Titel Odmieńcy (2023), was etwa mit "Außenseiter" übersetzt werden kann undein alter Slangwort der für "Freaks" und "Queers" war. Es bezieht auf ein gleichnamiges Seminar und eine Publikation von Maria Janion und zitiert visuelle Codes von Jean Genet, Jean Cocteau und Georges Batailles.
Die Installation dient gleichzeitig als Bühne für das öffentliche Programm, das von Radziszewski als integraler Bestandteil der Ausstellung und in Anlehnung an seine langjährige Praxis eines transnationalen Community Buildings konzipiert worden ist. Radziszewski hat eine Gruppe seiner gleichgesinnten Kolleg*innen – Künstler*innen, Denker*innen und Aktivist*innen aus ost- und mitteleuropäischen Ländern, deren jeweilige Praxis konzeptuell, ästhetisch und ethisch mit seiner eigenen verbunden ist – eingeladen, alternative „history lessons“ zu halten. Zu ihnen gehören: Der ukrainische Künstler Anatoly Belov; das rumänische Performance-Duo #FLUID (bestehend aus der Performerin, Choreografin und Dramaturgin Paula Dunker und dem Musiker Alex Bălă); der deutsche Künstler Philipp Gufler; die tschechische Fotografin Libuše Jarcovjáková; der polnische Künstler und Aktivist Ryszard Kisiel, der estnische Künstler Jaanus Samma, der ukrainische Künstler und Fotograf Anton Shebetko, die slowenische Schriftstellerin, Übersetzerin, Aktivistin und Soziologin Suzana Tratnik und die polnische Künstlerin Liliana Zeic mit Dragqueen Twoja Stara. Diese „history lessons“ beleuchten queere und nicht-normative Narrative der jeweiligen geografischen Regionen der eingeladenen Gäste. Am Tag der Finissage wird Radziszewski zudem die neueste Ausgabe des DIK Fagazines mit Schwerpunkt Ukraine vorstellen, die er gemeinsam mit Anton Shebetko herausgibt.
Kuratiert von Viktor Neumann.
history lessons:
11. Februar
18.00 Uhr Ryszard Kisiel
20.00 Uhr #FLUID (Paula Dunker und Alex Bălă)
25. Februar
18.00 Uhr Libuše Jarcovjáková
20.00 Uhr Suzana Tratnik
11. März
18.00 Uhr Philipp Gufler
19.00 Uhr Liliana Zeic with Twoja Stara
25. März
18.00 Uhr Jaanus Samma
15. April
18.00 Uhr Anatoly Belov
19.00 Uhr Anton Shebetko
20.00 Uhr DIK Fagazine No 13 Launch
Press on the exhibition:
Joanna Warsza, Critics’ Picks: Karol Radziszewski, artforum.com, March 2023
Karol Sienkiewicz, Szkoła po queerowej stronie lustra, dwutygodnik.com, 3 March 2023, (PL)
Editorial, Siegessäule Berlin, March 2023