THESES ON HOPE
#13 Ioana Nemeș: Times Colliding
13. September - 18. November 2023 (Verlängert)
Between Bridges freut sich, die erste nicht-kommerzielle Einzelausstellung der rumänischen Konzeptkünstlerin Ioana Nemeș (1979-2011) in Deutschland zu präsentieren. Nemeș, die als professionelle Handballspielerin ausgebildet wurde, änderte nach einer Verletzung ihren Lebensweg: Sie studierte Fotografie an der Nationalen Universität der Künste in Bukarest, wandte sich jedoch bald vom fotografischen Medium ab und entwickelte eine medienübergreifende Praxis, die auf einer künstlerischen Erforschung von Zeit und Sprache basiert. Sie arbeitete sowohl individuell als auch in kollektiven Zusammenhängen mit den Gruppen Rozalb de Mura, Apparatus 22 und Kilobase Bucharest. Die Ausstellung bei Between Bridges erinnert an die Praxis von Ioana Nemeș, die als eine der bedeutendsten rumänischen Künstlerinnen ihrer Generation gilt und knüpft ästhetisch und diskursiv an ihre letzte Einzelausstellung in New York an, die ebenfalls den Titel Times Colliding trug.
Die Ausstellung gruppiert sich um eine Reihe medienübergreifender Serien aus der Dekade ihres künstlerischen Schaffens und kreist um ein elaboriertes Werkensemble eines diagrammartigen Systems von (Selbst-)Bewertungen unter dem Obertitel Monthly Evaluations (2005-2010): Angetrieben von dem Bedürfnis, „die nicht greifbaren Dinge wie das Leben oder die Zeit aufzuzeichnen, zu sezieren, zu verstehen und zu beschreiben", entwickelte Nemeș eine Methodik täglicher Auswertungen, die auf einer Reihe spezifischer Parameter basiert: „physisch“ (abgekürzt mit P), „emotional“ (E), „intellektuell“ (I), „finanziell“ (F) und „Glück“ (L für „luck“). Diese Faktoren wurden auf einer numerischen Skala von -10 bis +10 eingestuft, wobei jeder Tag eine andere Bewertung erhielt und mit einem Plus-, Minus- oder Gleichheitszeichen markiert wurde. Die Künstlerin kombinierte diese täglichen mathematischen Gleichungen mit tagebuchartigen Textfragmenten, die spekulative und skeptische, poetische und kulturkritische, persönliche und makro-narrative Elemente und Perspektiven miteinander verbanden. Nemeș’ Stil war wesentlich von der „stream-of-consciousness“-Methode beeinflusst, die mit Virginia Woolf assoziiert wird. Die literarische Pionierin, die in ihrem Werk die „außergewöhnliche Diskrepanz zwischen der Zeit auf der Uhr und der Zeit im Kopf“ aufzeigte, war in der Tat eine der ersten generationenübergreifenden Bezugspersonen von Nemeș, wie eines ihrer proto-evaluierenden Textfragmente aus dem Jahr 2004 nahelegt: „Zufällige Begegnung mit Virginia Woolf“. Jedem einzelnen Tag wurde schließlich in einem Akt gezielter Synästhesie ein eigener Farbton zugeordnet. Diese „chromatischen Landkarten“, wie die Künstlerin sie nannte, waren durch den Lüscher-Farbtest inspiriert, der 1947 von dem Schweizer Psychotherapeuten Max Lüscher entwickelt wurde. Sein projektiver psychologischer Test unternahm den Versuch, eine objektive Messung subjektiver Zustände zu ermöglichen, und in ähnlicher Weise erlaubten Nemeș’ Farbnuancen ihr, ein expressives und affektives Vokabular zu entwickeln, das über sprachliche Konventionen hinausging.
Aus diesen vielschichtigen alltäglichen Bewertungen entstand ein Archiv gelebter Erfahrungen, ein Rahmen, innerhalb dessen Nemeș arbeiten konnte, indem sie bestimmte Tage auswählte und ihnen eine Form als Wandmalerei, Objekt oder Skulptur gab: Sie fügte sie zu elliptisch zusammenhängenden Kompositionen und möglichen Erzählungen zusammen, untersuchte die Verflechtungen zwischen persönlichen und historischen psychologischen Rhythmen und transformierte abstrakte Vorstellungen von Zeit in erfahrbare und affektive Formen.
Nemeș nimmt eine ambivalente Haltung gegenüber der Chrononormativität ein (nach Elizabeth Freeman die „Vereinnahmung der Zeit zur Organisation individueller menschlicher Körper mit dem Ziel maximaler Produktivität“): Weder bekräftigt noch negiert sie in ihrer Praxis die Logik und Ästhetik zeitlicher Reglementierung, ebenso wenig wie die regulierenden Techniken und Instrumente – Uhren, Kalender, Chroniken oder etwa die visuelle Sprache der Bürokratie. Vielmehr legt sie deren Auswirkungen auf den Menschen offen, indem sie jedes Werk und jede Ausstellung als eine besondere Erfahrung und ein Experiment mit der Zeit begreift, wobei sie oft dissonante Zeitlichkeiten und Logiken innerhalb einzelner Werke und Serien in Betracht zieht. Ihre Praxis der Selbstevaluation war sowohl eine kontinuierliche Aktion über mehrere Jahre hinweg als auch ein Prozess des Archivaufbaus; rigoros und experimentell zugleich, war die Bewertung sowohl Ausgangspunkt als auch Ziel, Gegenstand und Mittel. Nemeș hat immer wieder betont, ihre Arbeit sei nicht nur autobiografisch motiviert, sondern entspringe auch einer Obsession für innere Ordnungssysteme und dem Wunsch, zu erforschen, wie die Zeit durch diese Systeme hindurchfließt.
Die Ausstellungsräume im Erdgeschoss sind einer Auswahl aus den Monthly Evaluations gewidmet und präsentieren überwiegend Tage, die bislang noch nicht öffentlich zu sehen waren und die jetzt, für die Ausstellung bei Between Bridges, aus der ersten Sichtung von Nemeș’ Notizbüchern nach ihrem Tod entnommen wurden. Die Tage, die als eine nicht-chronologische Komposition zusammengestellt sind, verweben vorwiegend Nemeș’ Überlegungen über die Zeit in ihrer affektiven Dimension. Während die Werkgruppe in der Vergangenheit unterschiedliche materielle und räumliche Manifestationen angenommen hat (darunter gerahmte Drucke, Epoxid-Skulpturen, Pappwürfel oder sogar Schutzumschläge von Büchern), werden die Auswahl der Monthly Evaluations in der Ausstellung bei Between Bridges vorwiegend in ephemeren Medien wie Wandmalereien und Fensterplots präsentiert und unterstreichen damit ihre Beschäftigung mit dem Wesen der Zeit als Thema und als Element in der Ausstellung selbst. Ende 2010 hatte Nemeș die täglichen Auswertungen aktiv eingestellt, nutzte aber die daraus resultierende „Datenbank“ weiterhin als Grundlage, um die Formbarkeit der Zeit zu untersuchen. Am deutlichsten wurde dieser konzeptuelle Schritt in ihrer letzten Ausstellung vor ihrem frühen Tod, die von März bis Mai 2011 in der kürzlich geschlossenen New Yorker Non-Profit-Organisation Art in General (1981-2020) stattfand. Im Rahmen ihrer Teilnahme am renommierten Eastern European Residency Exchange (EERE) Programm, präsentierte sie eine erste skulpturale Manifestation ihrer als nächste zentrale Werkgruppe geplanten Serie: Times Colliding (Monthly Evaluations 6.09.2006, 22.09.2007, 12.04.2011) (2011). Diese enigmatische Skulptur, die für Between Bridges reproduziert wurde, zeigt drei zeitlich weit voneinander entfernte Tage, die, obwohl sie sie kurz vor dem Zusammenbruch stehen, sich gegenseitig zu stützen scheinen. Der 6.09.2006 durschneidet die anderen Tage und verkündet in einem hellen Pfirsich-Ton THE COLOR OF INTENSE, EROTIC MOMENTS IS NOT RED, IS NOT RED, während der 22.09.2007 in einem kühlen Blaugrün-Ton FREEDOM AS ANOTHER FORM OF TRYANNY, AS ANOTHER WONDERFUL CAGE proklamiert. Der 12.04.2011 in expressivem Orange signalisiert IN SORROW ALL THE FACIAL MUSCLES RELAX. Trotz oder gerade wegen ihres drohenden Zusammenbruchs verwandeln sich die einzelnen Tage in ein voneinander abhängiges und sich gegenseitig stabilisierendes Gefüge. Ihre Kollision – per Definition sowohl ein gewaltsamer Zusammenstoß als auch eine Verbindung zwischen Entitäten oder Partikeln, die zu einem Austausch oder einer Transformation von Energie führt – kann so auch als Anlehnung von Nemeș an eine Reihe von Künstler:innen und Denker:innen des 20. Jahrhunderts gedeutet werden, die konventionelle Konzepte von Zeit überdacht haben. Angesichts der lokalen Spezifität ihrer Ausstellungspraxis kann die Skulptur als Dialog mit den vielen New Yorker Künstler:innen des Minimalismus und der Konzeptkunst gelesen werden, die von George Kublers wegweisender Publikation „The Shape of Time: Insights on the History of Objects“ von 1962 beeinflusst waren. In diesem Sinne ist Nemeș’ Skulptur ein anti-chronologisches, anti-chrononormatives Bekenntnis dazu, Zeit – in all ihrer Flüchtigkeit als Idee, Empfindung und Erinnerung – sowohl als Form als auch als Potentialität zu begreifen.
Der Zusammenbruch der „Zeit auf der Uhr“ setzt sich im Treppenhaus zum Untergeschoss fort, wo eine Vinyl-Zeichnung einer Digitaluhr – hier mit abstrahierten, kollidierenden Ziffernblättern anstelle von einzelnen Ziffern versehen – installiert ist und in ihrer Wirkmacht als eines der zentralen Instrumente zur Regulierung des Lebens visuell demontiert wird. Im Untergeschoss sind Werke und Dokumente ausgestellt, die die Monthly Evaluations ergänzen, sowie eine Reihe von Arbeiten, die Nemeș’ Leidenschaft für die Umsetzung ihrer alltäglichen Rituale und Regelwerke sowie auch für die expressiven Möglichkeiten von Farben offenbaren. Die hier installierte Manifestation von Untitled (The Lost Days) (2010/11) bezieht sich auf eine kürzlich entdeckte Notiz der Künstlerin zu einer von ihr geplanten, aber nicht mehr realisierten Weiterentwicklung ihrer Werkserie The Lost Days – Tage, die Nemeș nicht auswertete oder nicht auswerten konnte und die dennoch registriert blieben – in der ephemereren Form einer Videoprojektion auf Nebel. Im Hauptausstellungsraum im Untergeschoss werden Collagen aus der Werkserie Untitled (2011) raumgreifend präsentiert. Für diese Serie verwendete Nemeș Farbchips der mit lyrischen Namen bezeichneten Farbnuancen der Firma Benjamin Moore, die sie zu „ready-made-poetry“ zusammensetzte (während der fünfjährigen Auswertungen für Monthly Evaluations arbeitete Nemeș ausschließlich mit Farben von Benjamin Moore, um ihren Tagen verschiedene Farbnuancen zuzuordnen).
In den Vitrinen sind eine Reihe von Werken und Dokumenten präsentiert, die mit den Monthly Evaluations in Verbindung stehen. Dazu gehört eine Sammlung emblematischer Fotografien aus dem The Wall Project (2001-2004), der ersten Serie von Selbstbewerungsarbeiten, die sie in ihrer kleinen Familienwohnung in Bukarest entwickelt, realisiert und ausgewertet hat. Ursprünglich in Form eines Storyboards organisiert und in drei Hauptabschnitte „Kunst&Projekte“, „Mode“ und „Voodoo/Wunschliste“ unterteilt und später mit Plus/Minus oder 0-10 bewertet, ermöglichte ihr das Projekt, die Entwicklung ihrer persönlichen und beruflichen Situation und ihrer Sehnsüchte nachzuvollziehen. In der Nähe ist eine Audiodatei von Nemeș’ erstem Selbstinterview aus dem Jahr 2004 installiert, in dem die Künstlerin die Doppelrolle der Interviewerin/Interviewten einnahm. Das Gespräch bietet Einblicke in verschiedene Themenbereiche wie die Entstehung von The Wall Project, in das Regelwerk und die Untersuchungsfelder, die sich Nemeș selbst gesetzt hat, sowie in die Ungewissheiten der sich verändernden künstlerischen und wirtschaftlichen Situation Rumäniens in einer Phase der Transformation in der Europäischen Union. Weitere Selbstinterviews (2005-2010), die Nemeș im Laufe der Jahre schriftlich festgehalten hat und die als Zweiergespräche mit fiktiven Kritikern getarnt sind, bilden die Grundlage einer für die Ausstellung produzierten Publikation, die vor Ort gelesen werden kann. Sie erzählen unter anderem von einer Reihe ethischer und politischer Standpunkte oder Haltungen zum Kulturbetrieb und zur Kunstwelt.
An der hinteren Wand des unteren Ausstellungsraums ist eine Installation von Apparatus 22 zu sehen, einem 2011 gegründeten Kollektiv, dem auch Nemeș angehörte und das heute aus den weiteren Gründungsmitgliedern und engsten Weggefährt:innen der Künstlerin besteht: Maria Farcaș, Erika Olea und Dragoș Olea. Disco Punch I (dedicated to Ioana Nemeș) (2014) ist die erste einer Serie von vier Installationen, die ihrer Partnerin und Freundin gewidmet sind: eine ruhige und zugleich ausgelassene Meditation über Trauer, Verlust und die Vergänglichkeit des Lebens.
Die Ausstellung wird gemeinsam kuratiert von Kilobase Bukarest, Fanny Hauser und Viktor Neumann.
Auf die Präsentation bei Between Bridges folgt eine Reihe von Ausstellungen, die verschiedene Aspekte der künstlerischen Praxis von Ioana Nemeș in der Art Encounters Foundation in Timișoara und im MNAC - National Museum of Contemporary Art in Bukarest (neu) vorstellen und miteinander in Beziehung setzen.
Ioana Nemeș: Times Colliding wird freundlicherweise von Benjamin Moore unterstützt. Wir sind Maria Farcaș und Erika Olea für ihre unentbehrliche Mitarbeit und Unterstützung äußerst dankbar.
Press on the exhibition
Times Colliding – Ioana Nemeș, BLOK, 11 January 2024
Theresa Roessler, “Time seems to me quite slippery in everyday life”, Revista Arta, 24 April 2024